Plattensalon


Zwischen Kaffee und Straße

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PORTRAITS

Rudis Einladung

25th Mrz '17

Rudi und ich sitzen im Schneidersitz auf dem Boden und lehnen uns an die sonnenbeschienene Hauswand des Café 72. Drin ist es momentan zu laut für ein Interview. Erst wollte Rudi nicht, dass ich mich auf den Boden setze.

„Wie sieht denn das aus?!“

Aber nun sitzen wir hier.

Rudi ist nicht mehr ganz nüchtern. Seine Augen sind blau, hellblau und sein Blick ist – trotz des Alkohols – fest und undurchdringlich. Für das Gespräch mit mir hat er extra ein Hemd angezogen. Unter seiner schwarzen Jacke sieht man es leider nicht so gut.

„Ich habe mir wirklich überlegt ob ich dir die Wahrheit erzählen soll. Weil ich nicht weiß, ob du die Wahrheit verträgst“, sagt Rudi.

„Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht“, sage ich und bin gespannt, was Rudis Wahrheit ist.

Er ist halb Kroate, halb Australier. Als Beweis zeigt er mir seinen Ausweis. Er spricht fließend Englisch und kurz unterhalten wir uns auch auf Französisch. Seine Aussprache ist nicht sehr deutlich, aber das liegt wohl am Alkohol.

„Was bist du von Beruf?“, frage ich.

„Ich habe drei Berufe.“

Er habe Industrieelektroniker bei der AEG gelernt, dann eine Ausbildung zum Kommunikationstechniker gemacht.

„Und der dritte Beruf?“

„MCSE. Microsoft System Certified Engineer. Mich haben sie mit 14 Jahren schon gejagt wegen Wirtschaftskriminalität.“

Er erzählt mir, dass er Mitglied im Chaos Computer Club gewesen sei.

„Kennst du den Unterschied zwischen binärem und dezimalem Code?“ fragt er mich.

Den kenne ich natürlich nicht.

Rudi sagt mir meinen Namen im binären Code.

„01000011 01101000 01110010 01101001 ….“

Ich bin beeindruckt, aber das freut Rudi nicht wirklich. Sein Selbstwertgefühl ist im Keller. „Die sehen uns hier als Menschen dritter Klasse. Die meinen, wir wären alle abgestürzt wegen Alkohol und Drogen. Bei manchen ist das vielleicht so. Bei mir nicht.“

„Und wie ist es bei dir?“, frage ich.

„Ich spiele in einer anderen Liga.“ Nach der Sache mit dem binären Code glaube ich das sogar irgendwie.

Ich wechsle das Thema: „Du hast mir gesagt, du wohnst gerade in einer Notunterkunft.“

„Genau.“

„Und wie ist es dort? Wie kann man sich das vorstellen, wenn man noch nie dort war?“

„Ganz einfach: Ich lade dich ein. Schau es dir an.“

Ich schlucke.

„Du willst wissen, wie das Leben ist auf der Straße“, sagt Rudi. „Dann lade ich dich ein.“

Ich weiß nicht was ich antworten soll.

Rudi lässt nicht locker: „Ich lade dich ein. Hör mir zu. Nur eine Nacht. Du bleibst mit mir eine Nacht dort auf der Straße.“

Natürlich will ich wissen, wie es in einer Notunterkunft aussieht und ich will auch wissen, wie das Leben auf der Straße ist, aber möglicherweise ist eine Nacht in der Notunterkunft zu verbringen nicht die richtige Herangehensweise für mich.

„Nein, das ist mir zu gefährlich“, sage ich und in meinem Kopf spielen sich verschiedenste Horrorszenarien ab.

„Merkst du was?“. Rudis Stimme wird lauter. „Und erst dann, wenn du das selber erlebt hast, an deinem eigenen Körper, erst dann kannst du darüber berichten. Vorher nicht. Und ich mache das sehr, sehr lang schon. Weißt du, warum?“

„Warum?“ frage ich.

„Ich habe meine Wohnung verloren. Du willst wissen wieso? Weil der Vermieter gestorben ist.“

Rudi musste aus der Wohnung ausziehen, weil die Töchter seines Vermieters Eigenbedarf angemeldet hatten.

„Und so bin ich dann auf der Straße gelandet.“

Und nicht nur das. Rudi ist auch schon acht Mal im Gefängnis gelandet.

„Wie kann man so oft hinter Gittern landen?“, frage ich.

„Ich habe scheiße abgesessen wegen Leuten, die Kacke gemacht haben.“

Ich wirke wohl wenig überzeugt und Rudi gibt mir ein Beispiel.

„Ich treffe einen Kollegen von mir. Der hatte nen Kumpel dabei. Den kannte ich nicht. Wir gehen einkaufen, hier unten, beim REWE oder wie das Ding da heißt. So. Ich zahl meine zwei Bier, mein Kollege zahlt seine zwei Bier und der andere klaut nen Wodka. So. Was war das Ergebnis vom Lied? Ich kriege eine Anzeige wegen Beihilfe zum Diebstahl. 450 Euro. Hab ich nicht gehabt.“

So landete Rudi also im Knast und saß 45 Tage seine Geldstrafe ab.

„Ich habe es geschafft in sieben Jahren acht Mal in Bunker zu wandern. Immer wegen so Lappalien.“ Er hält kurz inne. Dann meint er: „Ja gut, für die scheiße, die ich gemacht habe, da stehe ich dazu.“ So ganz unbegründet waren wohl doch nicht alle acht Gefängnisaufenthalte.

Als Rudi nach einem Gefängnisaufenthalt in seine damalige Wohnung wollte, habe der Schlüssel nicht mehr ins Schloss gepasst. Der Vermieter erklärte ihm, dass man seine Sachen entsorgt habe. Rudi könne nicht mehr in die Wohnung.

„Weißt du, um was es ging? Da waren Werte drin von über 25.000 €. Meine Eishockey-Ausrüstung, mein Fahrrad, meine Rechner, meine Messgeräte. Das, was mal mein Job war. Verstehst du?“

Rudi wird wütend, wenn er über diesen Vorfall spricht, denn nebst seinem gesamten Besitz seien damals auch alle seine Unterlagen, seine Arbeitszeugnisse und Papiere weggeworfen worden.

Dieser Umstand sorgt vor allem beim Jobcenter für Probleme. Rudi soll sich bewerben.

„Ja mit was denn? Soll ich meine Bewerbung auf eine Toilettenpapierrolle schreiben oder was? Ich habe nicht mal mehr einen Laptop!“

Ohne Bewerbung keinen Job. Dabei wäre Rudi froh, er hätte eine Arbeit.

„Etwas, das einen Sinn hat. Weißt du, wie ich meine? Nicht den ganzen Tag vor sich hin vegetieren, nicht wissen, was du mit dir selber anfangen sollst. Deswegen kommt dann auch dieser scheiß Alkoholismus.“

„Ja, ich habe gemerkt, du bist schon ganz schön betrunken“, sage ich aber Rudi meint, das sei noch nichts. Er sei noch nüchtern.

Dann wird er wieder ernst.

„Ich täte gern ein geregeltes Leben haben. Weil mir ist langweilig. Aber die Grundvoraussetzung, um wieder was aufzubauen, ist, dass ich wieder ein eigenes Domizil habe. Also sprich eine eigene Wohnung, um die ich mich kümmern kann. Weil da kann ich mich dann zurückziehen, da kann ich Kraft schöpfen, um dann morgens arbeiten zu gehen. Dann habe ich auch wieder ein Ziel vor Augen. Könnte vielleicht eine Beziehung führen. Eventuell mit dir?“

Ich lächle verlegen: „Sorry, ich bin vergeben.“

Er lacht: „Aber der war grad gut, oder?“

„Der war schon gut, ja“, sage ich und lache auch.

„Hat es das grad aufgenommen?“ Er zeigt auf mein Diktiergerät.

„Ja.“ Ich nicke.

„Gut.“

Ich gebe Rudi eine Einwegkamera mit. Er verspricht, seinen Alltag in Bildern festzuhalten. Eine Woche nach unserem Gespräch gibt er einen vollen Film im Café 72 für mich ab. Die Fotos seht ihr hier .