Plattensalon


Zwischen Kaffee und Straße

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Das Café 72

3rd Mrz '17

Es riecht nach Zigarettenrauch. Das ist mein erster Gedanke, nachdem ich den Vorraum des Café 72 in Bad Cannstatt betreten habe. Viel Zigarettenrauch.
Ich starre die Leute an, die da gemütlich auf Bänken und Stühlen sitzen, und sie starren mich an. Ganz eindeutig habe ich eine vertraute Runde gestört. Dass ich noch nie Gast gewesen bin, sieht man mir anscheinend sofort an. Ein älterer Mann steht auf und fragt, ob er mir helfen kann. Ich sage, dass ich einen Termin bei Christoph habe.
„Kommet se mol mit“, sagt der Mann. Ich gehe hinter ihm her durch den Raum und komme ins eigentliche Café. Der Geruch nach Zigarettenrauch ist verflogen.
Eine offene Küche befindet sich schräg gegenüber dem Eingang, ein riesiger Tisch steht in der Mitte des länglichen Raumes. Weiter hinten sehe ich Bücherregale und Sitzbänke. Es ist viel los. Ich höre alle möglichen Sprachen.
Jeder geht seiner eigenen Beschäftigung nach. Die einen lesen, andere schmieren sich Frühstücksbrote oder diskutieren lautstark. Ungefähr so stelle ich mir das Wohnzimmer einer Wohngemeinschaft mit 20 Mitbewohnern vor.
Das Café 72 liegt an der Ecke Waiblingerstraße – Kreuznacher Straße. Mit im Haus: ein SM-Studio und das Islamische Zentrum Stuttgart. Die Mietergesellschaft im Haus ist ebenso bunt gemischt wie die Menschen, die das Café 72 besuchen. Die Tagesstätte wird vom gemeinnützigen Verein Ambulante Hilfe e.V. geführt. Die Website des Vereins findet man unter http://www.ambulantehilfestuttgart.de/

Seit 1977 berät und betreut der Verein kostenlos Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Sie erhalten Hilfe bei persönlichen Notlagen, sozialen Schwierigkeiten, Wohnungsverlust, beim Beantragen von Sozialleistungen, bei der Arbeitssuche und bei Problemen mit Schulden. Die Sozialarbeiter/innen begleiten die Betroffenen auch zum Arzt oder zu Ämtern. Die Vermittlung von Unterkünften gehört selbstverständlich auch zum Hilfsangebot und seit den 80ern baut der Verein außerdem Sozialwohnungen.
Beim Durchlesen des Info-Flyers wird einem ganz schwindelig angesichts dieses umfangreichen sozialen Engagements.
Christoph und Manfred, die ersten Sozialarbeiter, die ich kennen lerne, sind im Büro. Hier kann man Essensmarken kaufen, bekommt einen Platz auf der Dusch-Liste und wird grundsätzlich mit Rat und Tat unterstützt. Die beiden finden meine Idee gut, über die Menschen, die hier her kommen, zu schreiben. Ich darf also wieder kommen und das Café 72 als Raum für meine Interviews nutzen.

Beim nachhause Gehen lassen mich die Bilder aus dem Café nicht los. Ich bin geschockt. Aufgewühlt. Ich habe noch nie so viele hilfebedürftige Menschen auf einmal gesehen. Das WG-Zimmer, das ich mir momentan mit meinem Freund teile, erscheint mir plötzlich luxuriös. Mein eigentliches Umfeld bildet einen krassen Kontrast zu dem, was ich gesehen habe. In den eigenen vier Wänden erinnert nichts mehr an die Tatsache, dass nicht alle Menschen ein Dach über dem Kopf haben. Nur meine Haare riechen noch ein bisschen nach Rauch.