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Zwischen Kaffee und Straße

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PORTRAITS

62 Bücher oder Warum Franz Facebook nicht braucht

3rd Mrz '17

Mir klopft das Herz bis zum Hals vor dem ersten Interview im Café 72. Was, wenn niemand mit mir reden will? Meine Angst ist, Gott sei Dank, unbegründet.

„Komm mal mit, ich habe da schon jemanden für dich!“

Manfred, Streetworker und Sozialarbeiter seines Zeichens, fädelt das Gespräch zwischen meinem ersten Interviewpartner und mir ein:

„Franz, das ist Christine. Sie schreibt ihre Bachelorarbeit und würde sich gerne mal bisschen mit dir unterhalten“

Ich hatte mir lange überlegt, wie genau ich die Interviews gestalten wollte und welche einleitenden, erklärenden Worte ich zu meinem Projekt äußern würde. Als ich Franz dann aber in einer ruhigeren Ecke des Café 72 gegenüber sitze, stammle ich unkontrolliert ein paar Sätze von wegen:

„Ich schreibe meine Bachelorarbeit über die Menschen, die hier her kommen“ und „Hätten Sie Lust, mir etwas aus Ihrem Leben zu erzählen? Sie müssen aber nicht…“

Ich habe Angst, dass er mich zurückweist.
Franz ist, im Gegensatz zu mir, aber total gelassen und schaut mich durch seine Brille freundlich an. Schnell kommen wir ins Gespräch. Schon die ersten Sätze lassen mich aufhorchen: „In Stuttgart ist die Armut nicht offensichtlich und sie wird auch verdrängelt, sie wird weggedrängelt“, findet er. „Es geht doch allen gut, wir sind zufrieden und so. Und das stimmt halt nicht. Das ist nicht wahr.“
Er wohnt momentan in Plochingen.

„Das ist ein Zimmer, auch finanziert. Das ist so eine Art Hotel“, erklärt er mir. Ich hake nach: „Haben Sie dann einfach ein Zimmer mit Bett und Dusche und so?“ Ich habe absolut keine Vorstellung, was ein finanziertes Zimmer ist.
Die Antwort: Ein ganz normales Zimmer mit Bett. Im Haus gebe es zwei oder drei Duschen, Gemeinschaftsduschen. Das sei aber ok: „Man hat immer große Chancen, dass man da also jeden Tag duschen kann ohne dass da jemand drängelt.“ Er fügt hinzu: „Ich habe aber auch hier schon geduscht.“ Die Vorstellung, meine Dusche mit Fremden zu teilen, gefällt mir nicht besonders. Für Franz scheint es normal zu sein. Hauptsache, niemand stört.
Obwohl mir die Frage irgendwie unangenehm ist, stelle ich sie: „Und haben Sie auch mal komplett ohne Obdach gelebt, ohne Wohnung, nur mit Ihrem Rucksack?“

„Ja. Ja, aber mit meinem Fahrrad, mit Satteltaschen, wo alles Mögliche drin ist und wo ich mein Zelt aufgebaut habe. Wo ich dann auch wild mein Zelt aufgebaut habe. Da war es aber nicht ganz so kalt, wie es im Augenblick ist.“

Ich frage, ob das hart gewesen sei.
„Ohne zu wissen, wann das enden würde, war es trotzdem ein Abenteuer. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, vor irgendetwas Angst zu haben.“ Ich will wissen, ob er auch vor dem Tod keine Angst hat und wir finden uns plötzlich in einer Diskussion über den christlichen Glauben wieder. Von dort finden wir den Weg zum Thema Wiedergeburt, dann sprechen wir über Champignons, vegetarisches Essen, Homosexualität, Pegida, den Islam und die Auslebung der Religion in Frankreich. Irgendwann fällt mir ein, dass ich ihm eigentlich noch ein paar andere Fragen stellen wollte und ich muss zugeben, dass mir die Interview-Situation als solche entglitten ist. Ich kehre zurück zu meinem vorbereiteten Fragenkatalog.

„Wie lange sind Sie schon in Stuttgart? Wie lange kommen Sie schon hier her, ins Café 72?“

„Ja, also das ist unterschiedlich.“ Er denkt nach. „Fünf, sechs Jahre. Also das ist schwer zu sagen. Ne, sieben.“

Im März 2010 ist Franz nach Stuttgart gekommen und hat sich dem Widerstand gegen Stuttgart 21 angeschlossen. Immer wieder lebt Franz auch kurzzeitig in anderen Städten wie München und Hamburg. Aber die Montagsdemonstration gegen den Bau des neuen Bahnhofs rufe ihn immer wieder nach Stuttgart zurück, erklärt er mir.

Franz wurde in Schleswig-Holstein geboren, ist aber im Raum Freiburg aufgewachsen und zur Schule gegangen.

„Ich war mit 13 in einem Internat, weil man behauptet hat, ich sei lernbehindert oder so. Was ich aber im Laufe meines Lebens herausgefunden habe, dass es nicht so ist. Ich bin in meinem Leben Menschen begegnet, die gesagt haben: Du hast Abitur und hast studiert. Und dann sage ich nein, nichts dergleichen. Das ist aber auch schon bisschen her, wo die das gesagt haben.“

Er lacht.
Nach der Schule hat Franz eine Ausbildung gemacht. Welche Ausbildung das genau war, verrät er mir nicht. Nur, dass sie heute für ihn wertlos ist und dass es die falsche Ausbildung war: „Ich bin kein Mathematiker. Vom Rechnen verstehe ich nicht allzu viel.“ Finde ich sympathisch. Geht mir auch so.
Seiner Meinung nach müsste neben Mathematik vor allem der Umgang mit Geld in der Schule gelehrt werden: „Man hat Ökonomie und was weiß ich, aber der eigentliche Umgang, der Wert des Geldes wird in der Schule nicht gelehrt.“
Er erzählt mir, dass er sich verkalkuliert hat, in Schulden hängen geblieben war aber dass er bis heute, zumindest teilweise, alles wieder in Ordnung gebracht hat.
Das Gespräch mit Franz wird lang. Er weiß extrem viel zu erzählen und hat auch zu allem eine Meinung. In der Stadtbibliothek liest er immer die Tageszeitung. Das merkt man. Er ist auf dem neusten Stand. Auch über die amerikanische Politik weiß Franz bestens Bescheid. Er erklärt mir das Konzept von „Obamacare“ und die Watergate-Affäre. Ich merke, dass ich keine Ahnung habe und dringend mehr Zeitung lesen sollte.
Als das Thema Soziale Medien aufkommt, ist Franz weniger begeistert. Er braucht Facebook & Co nicht.

„Ich lese Bücher. Ich bin gerade am 62. Buch in meinem Leben überhaupt. Ich bin 54 Jahre alt und es ist eigentlich erstaunlich, dass man mit 54 grade mal am 62. Buch liest. Gibt wahrscheinlich Leute, die haben schon 600 Bücher gelesen in dem Alter. Wahrscheinlich.“

Sein Ziel ist es, irgendwann 100 Bücher in einem Jahr zu lesen. Ich gebe zu, da bleibt dann wenig Zeit, um Facebook nach etwas Interessantem zu durchforsten.
Rückblickend findet Franz eine Metapher für sein Leben, die ich schön und gleichzeitig traurig finde:

„Ich habe eigentlich mein ganzes Leben lang immer nur die Krümel, im übertragenen Sinne, entweder nur die Brotkrümel oder die Kuchenkrümel bekommen. Nie das richtige Stück, nie das, was richtig gewesen wäre.“

Er wirkt nicht deprimiert.
Eher verträumt. So, als sei er schon in Gedanken wieder bei seinem 62. Buch.
Das Resumé nach meinem ersten Interview im Café 72: Das Interview wurde so toll eben weil es mir entglitten ist. Aus einer künstlichen Frage-Antwort-Situation ist ein echtes Gespräch entstanden. Ich nehme mir vor, ab jetzt immer so offen zu sein und keine festen Fragen mehr vorzubereiten. So entsteht Raum für die Dinge, die mir mein Gegenüber wirklich erzählen will.